Eisenbahnhochbrücke Rendsburg

Der Ingenieurpreis des Deutschen Stahlbaues 2017 ist juriert:
AUSZEICHNUNG
Karsten Geißler | GMG Ingenieurgesellschaft, Dresden
Die Eisenbahnhochbrücke Rendsburg aus dem Jahre 1913 steht für deutsche Ingenieurbaukunst des frühen 20. Jahrhunderts und ist ein wichtiges Technikdenkmal. Hieraus erwächst auch die Pflicht zu einem sorgfältigen Umgang mit dem historischen Erbe. Die Erhaltung und Ertüchtigung der denkmalgeschützten Brücke ist eine hervorragende Ingenieurleistung gepaart mit Kreativität und dem Mut, neue Wege zu gehen. Wo Stahlbetonbrücken nach 40 Betriebsjahren oft schon abgebrochen und ersetzt werden müssen, zeigt dieses über 100 Jahre alte Bauwerk aus Stahl wie manches anders und zum Teil auch besser gemacht werden kann. Moderne Berechnungsmethoden und die investigative Suche nach Tragreserven ermöglichen es, eine technisch sinnvolle und wirtschaftliche Lösung für die nächsten 50 Jahre zu realisieren. Die Sanierung und Ertüchtigung der Eisenbahnhochbrücke ist Ingenieurbaukunst des 21. Jahrhunderts und ein würdiger Beitrag zur Baukultur, zum Umweltschutz und zur Schonung der verfügbaren Ressourcen.
Erläuterungstext von Karsten Geißler zur Einreichung beim 'Ingenieurpreis des Deutschen Stahlbaues 2017'
Lösungsweg
Die Eisenbahnhochbrücke Rendsburg, erbaut in den Jahren 1911 bis 1913, ist eines der bedeutendsten Technikdenkmäler in Deutschland und gleichzeitig das Wahrzeichen der Stadt Rendsburg. Bei der Brücke handelt es sich um eine genietete Stahlkonstruktion. Über die Brücke verläuft die zweigleisige Eisenbahnstrecke Hamburg-Neumünster-Flensburg-Dänemark.
Foto: GMG Ingenieurgesellschaft
Der markanteste Teil des fast 2,5 km langen Brückenzuges ist das Kanalbauwerk über dem Nord-Ostsee-Kanal mit den ca. 60 m hohen Pylonen und mit einer Länge von knapp 300 m bei einer Spannweite von 140 m. Eine technische Besonderheit ist dabei die Schwebefähre, eine an Stahlseilen hängende Plattform zur Kanalüberquerung für PKWs, Fußgänger und Radfahrer. Beidseits des Kanalbauwerkes schließen sich die langen Rampenbrücken an. Sie bestehen jeweils aus einer Aneinanderreihung von Pfeilern und einfeldrigen Überbauten, insgesamt 51 Pfeiler und 105 Überbauten. In der nördlichen Rampe befindet sich zudem noch eine 75 m lange Brücke, unter der sich die Eisenbahnstrecke im Zuge einer langgezogenen Schleife selbst unterquert, das sogenannte Schleifenbauwerk.
Seit Ende der 1990er Jahre wird die Brücke umfangreich ertüchtigt. Bauherr ist als Eigentümer der Brücke die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung, vertreten durch das Wasser- und Schifffahrtsamt Kiel-Holtenau, im Auftrag der DB Netz AG. Die Ertüchtigungsmaßnahmen umfassen neben der grundhaften Instandsetzung – also der Erneuerung des Korrosionsschutzes und der Beseitigung von Korrosionsschäden – vor allem eine Verstärkung der Brücke für die heutigen Eisenbahnverkehrslasten.
Gegenüber der ursprünglichen Brückenbemessung, die damals für das Lastbild des preußischen Lastenzuges A erfolgte, haben sich bei heutigen Lastbildern neben den Achs- und Streckenlasten vor allem die Anfahr- und Bremslasten deutlich erhöht (Achslasten auf der Rendsburger Brücke früher 13-17 t, heute 22,5 t; Streckenlasten früher 43-71 kN/m, heute 64-80 kN/m; Bremslasten früher 1/7 der Vertikallast, heute 1/4; Anfahrlast früher nicht angesetzt – stattdessen zweigleisiges Bremsen, heute 1000 kN Anfahrlast). Für die Verstärkung eines solch historischen Bauwerkes sind jedoch technisch-wirtschaftliche Grenzen gesetzt, so dass einerseits bezüglich der Belastbarkeit Kompromisse erforderlich waren, andererseits Tragfähigkeitsreserven durch umfangreiche numerische Analysen und durch Bauwerksmessungen erschlossen werden mussten.
Lösungsweg
Die Restnutzungsdauerberechnung hat gezeigt, dass die Brücke noch für mehr als 50 Jahre nutzbar ist. Das ist ein guter Wert und gleichzeitig ein typischer Wert für die zweigleisige Brücke mit guter Querverteilung und ermüdungsarmer Konstruktion (genietet, nicht geschweißt). Eine Brückenertüchtigung im Hinblick auf eine langfristige weitere Nutzung war damit grundsätzlich möglich.
Es stellte sich die Frage, für welche Lasten die Brücke verstärkt werden kann und welche Kosten zu erwarten sind. Dabei war es vor allem für die deutlich größeren Anfahr- und Bremslasten unumgänglich, Tragfähigkeitsreserven des Bauwerkes zu erschließen. Insbesondere die normative Anfahrlast von 1000 kN auf einer Eintragungslänge von 30 m stellt für die schlanke, hohe Konstruktion der Brücke eine enorme Belastung dar.
Durch umfangreiche numerische Analysen an einem nichtlinearen Gesamtmodell der Eisenbahnhochbrücke konnte gezeigt werden, dass die Längskräfte – das gilt vor allem für die konzentrierten Anfahrlasten – mittels der Schienen und der Reiblager über einen größeren Bereich als die kurze Eintragungslänge verteilt werden können. Die Schienen sind lückenlos, ohne Schienenauszüge über die gesamte Eisenbahnhochbrücke verschweißt, so dass sie Längskräfte zwischen den Bauwerken verteilen und auf die Dämme ableiten können. Außerdem können die verschieblichen Lager der einzelnen Überbauten, die als Reiblager Stahl-Stahl ausgebildet sind, unter der Wirkung von Vertikallasten gleichfalls Horizontallasten ableiten, so dass das in Längsrichtung eigentlich statisch bestimmt wirkende System aus einzelnen Pfeilern und Überbauten unter der kombinierten Wirkung von Eisenbahnvertikal- und -horizontallasten in ein teilweise statisch unbestimmtes System übergeht und konzentrierte Lasten längs verteilen kann. Diese Effekte wurden im Berechnungsmodell durch zahlreiche nichtlineare Federkopplungen erfasst. Im Rahmen einer breiten Parameterstudie (unterschiedliche Laststellungen, Lastgrößen, Zuglängen, Reibbeiwerte) konnten für alle Teilbauwerke die maximal einwirkenden Anfahr- und Bremslasten ermittelt werden. Die Anfahrlast, die z.B. auf einen Pfeiler der Rampenbrücken einwirkt, konnte von dem normativen Wert von 1000 kN auf einen effektiven (und noch mit Sicherheiten behafteten) Wert von 400 kN reduziert werden. Die verbleibende Lastgröße verteilt sich auf die benachbarten Teilbauwerke. Erst dadurch, dass diese Tragfähigkeitsreserven erschlossen werden konnten, war es überhaupt möglich, die Brücke technisch-wirtschaftlich sinnvoll zu ertüchtigen.
Die numerischen Analysen wurden zusätzlich durch dynamische Messungen im Rahmen von Bremsversuchen am Tragwerk verifiziert. Die Zulässigkeit des planmäßigen Ansatzes der Reibkraftübertragung wurde auf Basis der Berechnungen und Messungen durch eine Unternehmensinterne Genehmigung der DB (UiG) und eine Zustimmung im Einzelfall des Eisenbahn-Bundesamtes (ZiE) bestätigt.
Für die Festlegung des Verstärkungszieles der möglichen Eisenbahnlasten wurden zahlreiche Klassifizierungsberechnungen und Kostenberechnungen für unterschiedliche Lastenzugkombinationen der zweigleisigen Brücke durchgeführt:
- D4 / D4: zweigleisiger Verkehr jeweils Streckenklasse D4
- D4: eingleisiger Verkehr D4
- D2 / D2: zweigleisiger Verkehr jeweils Streckenklasse D2
- D2 / DRZ: zweigleisiger Verkehr mit einem Güterzug D2 auf dem einen Gleis und einem Personenzug („definierter Reisezug“ DRZ) auf dem zweiten Gleis
Seitens der Bahn wurde aus Wirtschaftlichkeitsüberlegungen heraus entschieden, die Brücke für die kombinierte Lastenzugkombination D2/DRZ im zweigleisigen Verkehr und D4 im eingleisigen Verkehr zu verstärken.
Schon beim Entwurf der Verstärkungen mussten zahlreiche Randbedingungen berücksichtigt werden, u.a.:
- Die denkmalgeschützte Brücke musste in ihrer Gestalt erhalten werden.
- Die Montagearbeiten zur Verstärkung mussten in der Regel unter Eisenbahnbetriebslasten durchgeführt werden. Zur Tragwerksentlastung wurde für die Zeit der Verstärkungsmaßnahmen (bis 2014) ein eingleisiger Betrieb auf der Brücke eingerichtet. Außerdem standen mehrfach pro Tag kurze fahrplanmäßige Zeiten eines eingeschränkten Betriebes zur Verfügung, in denen nur leichte Personenzüge (Triebwagen) die Brücke passierten. Sperrpausen konnten jeweils nur in den Nächten von Samstag auf Sonntag eingerichtet und somit nur für ausgewählte Montageschritte genutzt werden.
- Am alten Bestandsstahl der ermüdungsbeanspruchten Brücke sollte und durfte nicht geschweißt werden.
Sehr aufwendig gestaltete sich stets die Detailplanung, hier einige Beispiele:
- Verstärkungslamellen auf den Stäben sollten tragfähig bis in die Knoten angeschlossen werden. Die Fachwerkknoten weisen durch die Knotenbleche jedoch immer Niveauunterschiede auf, wodurch angepasste Futterbleche erforderlich wurden.
- Für die Montage müssen die Niete der Knotenanschlüsse geöffnet werden, was aber häufig zu einer Instabilität der Konstruktion führen würde. Es waren entweder Baubehelfe (Abfangungen) erforderlich oder der Anschluss der neuen Verstärkungselemente erfolgte mit geteilten Laschen, für die jeweils nur einen Teil des Knotenanschlusses geöffnet werden muss.
- Der Anschluss der neuen Elemente erfolgte mit Passschrauben. Die Schraubenköpfe und vor allem die Muttern (i.d.R. mit zusätzlicher Kontermutter als Lösesicherung) beanspruchen mehr Platz als die alten Nietköpfe. Für über Eck eng zusammenliegende Verbindungsmittel musste detailliert geprüft werden, ob es zu geometrischen Überschneidungen kommt. Die Einsteckrichtungen der Schrauben wurden daher bereits in der Planung vorgegeben, ggf. auch die Montagereihenfolge einzelner Schrauben.
- Häufig war die Zugänglichkeit zu den Bauteilen erschwert, z.B. weil über den Quer- und Längsträgern das Gleis vorhanden ist. Hier musste die Einfädelbarkeit von Verstärkungslamellen bei der Planung berücksichtigt werden. Teilweise mussten Lamellen aus montagetechnischen Gründen geteilt hergestellt und durch Stoßlaschen verbunden werden. Für die Lage der Stoßlaschen mussten Geometrieeinschränkungen durch z.B. Kabelkanäle oder Laufstege berücksichtigt werden.
- Sollten ausgetauschte Stäbe an der Eigenlast mittragen, mussten sie vorgespannt werden. Hierfür waren Pressenansatzpunkte einzupassen.
Eine Änderung des (bewährten) statischen Systems sollte durch die Verstärkungsmaßnahmen nicht vorgenommen werden.
Im Zusammenhang mit der durch die Längskraftverteilung hervorgerufenen Kraftweiterleitung über die Schienen mussten zudem die Schienenspannungen rechnerisch untersucht werden. An den Bewegungsfugen der Brücke (diese liegen an den Widerlagern und an den Übergängen von den Rampenbrücken zum Kanalbauwerk) treten Maximalwerte der Schienenspannung auf, so dass dort Überlastungen hätten auftreten können. In diesen lokalen Bereichen wurden Vollschienen (Rechteckquerschnitt statt Vignolquerschnitt) angeordnet, um die zusätzlichen Schienenkräfte sicher aufnehmen zu können.
Zusammenfassung
Für eine Verstärkung eines derart alten Tragwerkes bestehen technisch-wirtschaftliche Grenzen. Erst durch abgestimmte Lastannahmen (-> D4 eingleisig bzw. D2/DRZ zweigleisig) und durch umfangreiche Tragwerksidentifikationen (nichtlineare Längskraftverteilungsberechnungen, dynamische Messungen im Zuge von Bremsversuchen, rechnerischer Ansatz von Reibkräften) ist es gelungen, die Brücke überhaupt für heutige Lasten ertüchtigen zu können. Das Bauen im Bestand erfordert seitens der Planung und der Ausführung viel Kreativität und viel Detailaufwand, da übliche Standardlösungen häufig nicht angewendet werden können. Überraschungen im Bauablauf bleiben trotzdem nicht aus und verlangen eine enge Zusammenarbeit zwischen dem Bauherren, dem Planer und dem Prüfingenieur.
Die Kosten für die anspruchsvolle Verstärkung und Instandsetzung von ca. 165 Millionen Euro sind dabei deutlich wirtschaftlicher als ein Neubau einer Brücke oder gar eines Tunnels (die sich auf weit über 500 Millionen Euro belaufen würden). Dabei wird die Brücke nicht nur den Anforderungen der Vergangenheit gerecht, sondern die Brücke wird als wichtiges Element auf einer der Hauptstrecken der DB für heutige Lasten verstärkt und intensiv genutzt.
Die Eisenbahnhochbrücke Rendsburg ist mit ihrer herausragenden Größe ein Zeuge des technischen Aufbruchs des beginnenden 20. Jahrhunderts. Dieses Meisterwerk der Ingenieurbaukunst als funktionierende Brücke langfristig zu erhalten ist ein wichtiger Beitrag zur Baukultur in unserem Land.