Leichtbau mit Walzprofilen

Auszeichnung
Ingenieurpreis des Deutschen Stahlbaues 2019
Wilhelm + Partner, Stuttgart
Laudatio
Die Hybridkonstruktion kombiniert T-Profil Stützen mit Elementdecken indem Auflagerexzentrizitäten und Bauteiltoleranzen über eine biegesteife Koppelung der Deckenplatte mit Auflagerwinkeln und durchlaufenden Stahlstützen geschickt kompensiert werden. Tragwerk und Fassadenstruktur sind effizient integriert. Die optimierten relativen Steifigkeiten der verformungsarmen Decke und der sehr schlanken, biegeweichen Stiele ermöglichen eine Vielzahl leichter Kräftepfade - der Stahlbedarf liegt unter 10 Kilogramm pro Quadratmeter. Die Montage der Trockenbaukonstruktion ist damit leicht und schnell. Helmut Jahns Forderung, der Ingenieur müsse die ästhetischen Konsequenzen seiner Entscheidungen bedenken, wird in technisch eleganter Form umgesetzt.
19.11.2018/ Die Jury
Erläuterungsbericht von Wilhelm + Partner zur Einreichung beim 'Ingenieurpreis des Deutschen Stahlbaues 2019'
Aufgabenstellung
Geschossbauten unter Verwendung von Walzprofilen mit einem Stahlverbrauch von ca. 10 kg/m² bei Spannweiten bis zu 12 m sind keine Utopie. Dieser Tatsache ist der folgende Beitrag gewidmet.
Die meisten Bauten bestehen aus Wänden und Decken. Die Decken werden gelenkig auf den Wänden gelagert. Wenn die Wände in Stützen aufgelöst werden, wird zwischen den Stützen und Decken ein Träger eingebaut. Man achtet darauf, dass die Auflagerung exzentrizitätsfrei erfolgt, damit die Stützen keine Biegung aus der Vertikallast bekommen. Aus diesem Grund werden die Stützen geschosshoch eingeteilt. Wenn die Randstützen über mehrere Geschosse laufen, werden diese biegesteif mit Decken oder Riegeln verbunden. Man spricht von einer Rahmenwirkung in der Vertikalebene. Durch die Rahmenwirkung wird der Materialverbrauch reduziert, wobei bei einer gezielten Wahl des Biegesteifigkeitsverhältnisses zwischen Riegel und Stütze das Material noch weiter eingespart werden kann. Der Autor hat gezielt Tragwerke mit optimalem Steifigkeitsverhältnis von Riegel-Stütze unter Verwendung von üblichen, auf dem Markt erhältlichen Walzprofilen entwickelt.
Foto: Achim Birnbaum
Allgemein ist es bekannt, dass Steifigkeit Kräfte anzieht. Bei den statisch (bzw. kinematisch) unbestimmten Systemen ist jedoch nicht nur die Steifigkeit einzelner Bauelemente selbst, sondern das Verhältnis der Biegesteifigkeiten der Bauelemente in einer Komposition wichtig [1]. Konkret in einem Rahmen ist das Steifigkeitsverhältnis Riegel-Stiel ER*IR/ES*IS entscheidend.
Liegt das Biegesteifigkeitsverhältnis Riegel/Stiel bei ER*IR/ES*IS → ∞, so verspüren die Rahmenstiele aus vertikaler Belastung quasi keine Biegebeanspruchung.
Daraus folgt, dass beim Erhöhen der Verformbarkeit der Stiele und dem Reduzieren der Verformbarkeit der Riegel, die Stiele bei einer Vertikalbelastung weitestgehend nur auf Druck beansprucht werden.
Lösungsweg
Entwurfsüberlegungen
Durch das Vorspannen von Spannbetondecken [2] oder Riegeln wird eine erhöhte Steifigkeit bzw. eine verringerte Verformbarkeit dieser erreicht. Gleichzeitig, wenn konzentriert angeordnete, massive bzw. steife Stiele in mehrere nachgiebige aufgeteilt werden, wird ihre Biegesteifigkeit reduziert.
Was die Decken betrifft, so werden wir diese gedanklich in einzelne vorgespannte Fertigteilplatten bewusst auflösen und die Stiele bekommen gezielt nachgiebige offene Stahlprofilquerschnitte. Wobei das Biegesteifigkeitsverhältnis bei ER*IR/ES*IS > 1000 liegen wird. Jetzt ist nur noch bei einer durchlaufenden mehrgeschossigen Stütze die weitestgehend exzentrizitätsfreie Koppelung mit den Fertigteildeckenendungen zu erzielen.
Das Entgegenwirken einer Verdrehung der Plattenauflagerung kann durch die Durchbildung der Koppelung dieser Plattenendung mit dem Auflagerträger erreicht werden.
Deckenscheibendurchbildung bei gleichzeitiger Einspannung in den Stützen
Ferner ist bekannt, dass einzelne Platten in eine Deckenscheibe in Horizontalebene eingebunden werden müssen. Bei einer bestimmten Schubbeanspruchung der Fugen zwischen den einzelnen Platten sind diese zu bewehren.
Es stellt sich die Frage, ob diese Fugenbewehrung zum Erreichen einer biegesteifen Verbindung Platte-Stütze auch in Vertikalebene genutzt werden kann? Das Ziel ist, den Stahl-Auflagerwinkel mit dem Deckenscheibenrand so zu verbinden, dass die beiden eine Einheit bilden. Dies kann erreicht werden durch das Anschweißen einer Gewindehülse am Auflagerwinkel sowie das Eindrehen eines Gewindestabs in diese.
Wenn die Fuge nicht druckfest ausgefüllt und das Fugenband mit dem Auflagerwinkel nicht schlupffrei gekoppelt wäre, würde sich der Auflagerwinkel, welcher an einer Stahlstütze verschraubt ist, bei einer vertikalen Belastung auf die Spannbetonplatte samt Stütze in der Vertikalebene verdrehen wollen. Durch diese erfindungsgemäße Ausführung entsteht ein Kräftepaar, welches dafür sorgt, dass die Auflagerkonstruktion samt Spannbetonplatte eine Einheit bildet.
Dieses Verfahren hat der Autor für das Wohnhaus Prof. Thomas Hundt entwickelt und danach in weiteren Bauobjekten z.B. bei der Erweiterung des Verkehrskommissariats Kißlegg zum Einsatz in modifizierter Form gebracht (Stichwort: Stahlbaupreis 2018; Stahlbautag 2018 Duisburg; Sonderpreis des BMI).
Trotz der Einfachheit der Konstruktion ist eine baubegleitende Überprüfung auf Übereinstimmung mit der Planung seitens des Tragwerkplaners stets zu erfolgen. Die Zugbänder in den Plattenfugen sind gegen Kammfutterbleche zwischen dem Auflagerwinkel und den Stirnseiten der Platten vor dem Fugenverguß vorzuspannen.
Der Stahlverbrauch beim erwähnten Wohnhaus war der Folgende:
- für die Stützen T80, S235 - 3.8 kg/m² der überdachten Fläche
- für die Träger L150x90x10, S235 entsprechend 2.6 kg/m² der überdachten Fläche
Hiermit lag der aufsummierte Stahlverbrauch für Walzprofile bei Deckenspannweiten von l = 7.0 m im Erdgeschoss bei ca. 6.4 kg/m². Im Erdgeschoß erfolgte die Aussteifung in Vertikalebene über angrenzende Bauteile. Bezüglich des Obergeschosses erfolgte die Aussteifung in Vertikalebene über die Stahlkragarmstützen ebenfalls mit einem Walzprofilquerschnitt von T80, S235. Der Stahlverbrauch pro m² der OG- Grundrissfläche stieg hier auf ca. 10.5 kg.
Was den Brandschutz der leichten Stahlkonstruktion betrifft, so erfolgt dieser über einen entsprechenden Anstrich.
Montage
Die Montage der Stahltragstruktur bei diesem Projekt erfolgte unter Verwendung von vormontierten Ausfachungen mit Hilfe eines Krans. Bei weiteren Projekten wurden die Stützen und Träger als Einzelteile von Hand positioniert und mit dem Auflagerprofil verschraubt. Die Montagereihenfolge war die Folgende:
Zunächst wurden die Spannbetonplatten auf übliche Holzträger, welche durch ebenso übliche Behelfe gestützt waren, verlegt. Das nominale Plattenbreite-Achsmaß betrug die üblichen 1200 mm. Danach wurden die Stahlausfachungen an die Plattenränder angelehnt bzw. unter die Plattenränder untergeschoben. Im nächsten Schritt wurden die Platten auf die Stahlauflagerwinkel, welche mit EPDM-Streifen versehen wurden, abgelassen. Das Plattengewicht in dieser Montagephase wird noch immer durch den Montagebehelf aufgenommen. Erst nach dem Eindrehen der Zugbänder, Verfüllen mit Mörtel und Aushärten der Fugen wurde der Behelf abgelassen. Ab diesem Zeitpunkt übernimmt die Stahlstruktur die Aufnahme der Vertikalbelastung.
Zusammenfassung
Die Steuerung des Biegesteifigkeitsverhältnisses Riegel/Stiel ER*IR/Es*IS unter Verwendung von schlanken Walzprofilen wie T80, S235 in Kombination mit relativ leichten jedoch verformungsarmen Spannbeton-Fertigteil-Platten oder ähnlichen Elementen führt bei Spannweiten bis zu L = 12 m und einer Anzahl der Geschoße n = 3 zu einem Walzprofil-Stahlverbrauch unter 10 kg/m². Die weitestgehend „trockene“ Montage beider Gewerke Stahlbau – Massivbau kann durch einen Schlosser erfolgen. Die Montagezeit für die Decke über dem EG beim oben genannten Projekt mit einer Fläche von 140 m² dauerte 2.5 Stunden. Das Ausgießen der Fugen zwischen den Platten dauerte nochmal so lange. Das wichtige Merkmal dieses Verfahrens liegt darin, dass die Primärstützen mit einem T80, S235 Querschnitt dienen gleichzeitig als Fassadenprofile. Bei dieser Integration der Primärprofile in die Fassade sind Verluste an der Nutzfläche auf ein Minimum reduziert.
Literatur
1. Hütte – des Ingenieurs Taschenbücher, 1.- 4. Band; 1912
2. Freyssinet, E. – Exposé d´ensemble de l´idée de précontrainte, Annal Inst. Techn. Bat. Trav. Publ.; 1969, No.77