Erläuterungsbericht von Valeria Shchipitsyna zur Einreichung beim Förderpreis des Deutschen Stahlbaues 2020

1. Erläuterungsbericht der Arbeit „Urban Store“
Urban Store – eine achitektonische und technische Lösungsidee für die Menschen

Die Masterthesis „Urban Store“ bietet ein Lösungsvorschlag für die Städte wie Berlin, Orte zu schaffen, die die Bevölkerung zum interkulturellen Austausch und einer nachhaltigen Lebensweise anregt.
Derzeit werden in Berlin immer mehr Flächen mit überwiegend hochpreisigem Wohnungsbau und kommerziellen Bürobauten bebaut. Dabei gehen zunehmend öffentlicher Raum und Austauschorte in den Stadtteilen verloren. Gleichzeitig erstickt die Gesellschaft im Abfall ihrer Konsumsucht. Die Masterthesis beschäftigt sich mit der derzeitigen Konsumentwicklung und den Ansätzen von Sharing Economy. Die erarbeitete Lösung ist ein „Urban Store“. Ein Zentrum, welches wie eine große Bibliothek der Dinge funktioniert und somit den Kiez- und Stadtbewohnern einen Ort bietet, wo sie nicht nur die Sachen des täglichen Gebrauchs ausleihen können, sondern auch ihre alten Geräte der Gemeinschaft zur Verfügung stellen. In dort angebotenen Workshops werden die Gegenstände gemeinsam in einer Werkstatt repariert. Der „Urban Store“ ist sowohl Plattform für ein Quartiersmanagement und Vereine, als auch einfach ein Ort, der von den Kiezbewohnern nach ihren Wünschen und Bedürfnissen genutzt werden kann.

Neben der Recherche zur Sharing Economy, der Lösungsentwicklung und dem eigentlichen Entwurf ist ein wesentlicher Teil der Masterarbeit auch die umfangreiche Analyse der Stadt. Es ist wichtig, dass der Urban Store keine knappen Flächen für den Bau von Wohnraum belegt. Mittels einer empirischen Untersuchung und Typisierung von Berliner Grünflächen wurden Flächen identifiziert, die in Gemeinbedarfsflächen umgewidmet werden sollen und so für den Bau von „Urban Store“ Pavillons verfügbar werden. Der Pavillon wurde als Prototyp entwickelt und kann so auf jedem der drei entwickelten Grundstückstypen, die in jedem Kiez in Berlin zu finden sind, gebaut und dank eines modularen Systems auch an die Wünsche des unmittelbaren Umfeldes angepasst werden. Bei der technischen Konstruktion wurde auch auf kostengünstige, modulare Standardelemente zurückgegriffen, die die Finanzierbarkeit gewährleistet. Für den Entwurf wurden nicht nur neue technische Detaillösungen ausgearbeitet, sondern auch Materialien und Techniken in einem völlig neuen Kontext eingesetzt.
Urban Store soll zum Bauen für die Stadt und deren Bewohner anregen und zeigen, dass Architektur nicht nur innovative, soziale und technische Lösungsansätze braucht, sondern auch eine nutzenstiftende Aufgabe gegenüber der Bevölkerung hat.
Folgende vier Kriterien waren für die Bearbeitung der Thesis von großer Bedeutung.

1. Innovation
Diese Masterthesis ist kein herkömmlicher Architektur-Entwurf, sondern vielmehr die Auseinandersetzung mit grundlegenden Entwicklungen im urbanen Umfeld. Der entwickelte Prototyp „Urban Store“ soll dabei als Keimzelle für eine zukünftige Sharing Economy fungieren und ein nachhaltiges Zusammenleben in der Stadt ermöglichen, ohne dabei auf kommerzielle Ansätze zurückzugreifen. Die Architektur versteht sich hier als Wegbereiter einer künftigen, soziokulturellen Entwicklung und setzt dabei gängige Werkstoffe und Techniken völlig neuartig ein.

2. Interdisziplinarität
Die vorliegende Arbeit behandelt und vereint übergreifend die Gebiete der Architektur, Bauphysik, Stadtplanung, Soziologie, Betriebswirtschaftslehre und Rechtswissenschaft (Öffentliches Recht / Bau- und Planungsrecht). Die entwickelte Thesis wird umfassend in diesen Bereichen und damit fachübergreifend sowie kritisch und lösungsorientiert untersucht. Der entwickelte Prototyp „Urban Store“ geht somit weit über eine architektonische Betrachtung hinaus.

3. Praxisbezug
Der entwickelte Prototyp „Urban Store“ und seine möglichen Varianten sind an drei konkreten Grundstücken auf dessen Umsetzbarkeit getestet worden. Diese Grundstücke sind eine Auswahl aus insgesamt 45 untersuchten Freiflächen im gesamten Stadtgebiet. Dabei wurde darauf Wert gelegt, eine praxistaugliche Kubatur zu entwickeln, die bezahlbar und den örtlichen Anforderungen anpassbar ist. Ferner wurde ein Weg aufgezeigt, wie auch bauplanungsrechtlich der Urban-Store ermöglicht werden kann.

4. Konstruktion und Nutzbarkeit
Der Pavillon weist eine hohe Entwicklungstiefe auf.
Das Regal ist ein Modul, aus dem sich das komplette Gebäude zusammensetzt. Bei dessen Entwicklung stand neben technischen und optischen Entwicklungen, die Bequemlichkeit in der Nutzung durch den Menschen im Vordergrund. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden mussten viele technische Lösungen entwickelt werden, die auch eine Uminterpretation und Umgestaltung bewehrter Tragsysteme umfassten. Es wurden experimentell gewöhnliche Elemente neuartig eingesetzt. Dazu gehören Industriefassadenglaselemente, die als Boden- und Lichtstrukturen eingesetzt werden und Gitterroste, die als vandalismus-sichere, aber architektonisch inszenierte Fassade entwickelt wurden.

Durch die Verbindung von Technik und menschlichen Bedürfnissen entstand so ein Prototyp, der neben seiner Aufgabe als Bibliothek der Dinge auch als ein Anlaufpunkt den Kiezbewohnern dient. Das Gebäude öffnet seine barrierefreien Türen allen Menschen aller Altersgruppen und sozialen Schichten.

Aus der Planung

2. Entwurf
Konzept – Urban Store

Urban Store ist ein Prototyp für eine neue Typologie von „Bibliothek der Dinge“. Er unterscheidet sich von bisherigen Leihläden durch eine klare Identität und städtebauliche Präsenz. Es ist nicht nur eine punktuell in einzelnen Gebieten angesiedelte Organisation, es ist ein Netzsystem welches in jedem Kiez wiederzufinden ist. Nach Außen präsentiert er sich wiedererkennbar und zeigt auch die Nutzung.
Er ist natürlich in erster Linie ein Lagersystem für all die Konsumgüter die sich angehäuft haben und die im alltäglichen Gebrauch kaum genutzt werden. So hat man als Bewohner die Möglichkeit, die kaum oder nur selten genutzte Gegenstände seinem Kiez und seiner Stadt zu Verfügung zu stellen, ohne auf die eigenen Nutzung dabei zu verzichten. Man kann seine Dinge gegen andere Gegenstände tauschen oder auch nur das eben Nötige ausleihen.
Urban Store ist aber mehr als nur eine Tauschbörse. Er bietet vor Ort einen Treffpunkt, wo man Geräte warten, reparieren oder bauen kann und dies alles in Gemeinschaft. Die Werkstatt beinhaltet ein Satz an Werkzeugen, den man nicht verleiht, um beschädigte Gegenstände vor Ort reparieren zu können und auch Werkbänke, für besondere Arbeitsvorgänge. Die Arbeitsfläche kann je nach Bedarf in den Multifunktionsraum ausgeweitet / verlagert werden.
Eine weitere Funktion ist die Versorgung. Typisch für Berlin ist ein Kiosk, ein Späti oder ein kleine Kaffeetheke. Wobei die benötigte Fläche nur den Verkauf beinhaltet. Ähnlich wie bei der Werkstatt, kann der Multifunktionsraum auch für den Aufenthalt mitgenutzt werden.
Der Pavillon dient zugleich als Treffpunkt für die Nachbarschaft und stärkt dadurch jeden Kiez. Er lockert Wohngebiete auf und bietet eine Anlaufstelle. Das Verbindende Element, ist der Multifunktionsraum. Dieser dient als Erweiterung der Werkstatt und der Versorgung, je nach Veranstaltung und Bedarf. Der Raum funktioniert vom Lager unabhängig, was zum Beispiel bei einer Kiezveranstaltung vom großen Vorteil ist.
Zu jedem Gebäude gehören auch die Toiletten- und Nebenräume. Bei den Toiletten sowie anderen Nutzungen wurde berücksichtigt, dass das Gebäude eine öffentliche Nutzung hat und daher auch barrierefrei sein muss. Die Nebenräume beinhalten außer der nötigen technischen Ausrüstung auch das Lager für den Späti, einen Abfallraum und Bürofläche für die Verwaltung.
Obwohl er ein Prototyp ist und sich mehrmals in der Stadt wiederfinden lässt, ist er in jedem Kiez individuell. Die Grundstruktur liefert die Architektur, die Individualität wird durch die Nachbarn und die Gemeinschaft, als auch durch das Angebot und durch Veranstaltungen gestaltet.

3. Detail System – Urban Store

Im Folgenden wird die Struktur des Urban Stores vorgestellt. Diese bestimmt das ganze Gebäude und ist so entwickelt, dass es sich an unterschiedlichste Umgebungsgegebenheiten anpassen kann.

Die Struktur ist vom Hochregallager inspiriert.

Das Regal ist das Hauptelement des Gebäudes. Es ist Zugleich Tragwerk und Gestaltungselement. Das Raster und die Dimension ist einer Bibliothek ähnlich. Denn anders als im Hochregallager sind die Gegenstände nicht so groß. Außerdem muss bei dem Regalsystem die Erreichbarkeit der Fächer nicht durch Maschinen sondern durch Menschen gewährleistet sein.
Die Regale geben ein klares Raster von 1,20m Breite, 2,40m Tiefe und einer Fachhöhe von 60 Zentimetern vor. Es wir aus Fertigstahlelementen vor Ort montiert. Das besondere ist, dass zuerst das Regal gebaut wird und dann wird dieses verpackt, eben wie beim Hochregallager.
Die Regale und damit das Tragwerk besteht aus 6 mal 6 cm dünnen Profilen. Diese werden mit Hilfe der Diagonalen zu Rahmen verbunden. Die Rahmen werden mit Hilfe biegesteifen Traversen und den draufliegenden Regalböden verbunden und stabilisiert. So ist jede Regalreihe gegen das Kippen stabilisiert. Damit die Reihen auch in Querrichtung gegen Kippen gesichert sind, sind die Regalreihen untereinander durch weitere Traversen verbunden. Das alles bietet ein stabiles, selbsttragendes System. Lediglich ein weiteres, statisches Element kommt dazu: das Fachwerk. Dieses träg die Decke. Durch die kleinen Spannweiten reichen sehr dünne Profile aus, die im Gebäude eine Transparenz ermöglichen.
Das Regalsystem oder seine Elemente sind nicht nur für das Abstellen von Kisten geeignet, sondern übernehmen viele andere Funktionen. So können einzelne Regalböden weggelassen werden und somit Räume für Sanitäreinrichtungen, Hausanschlüsse, Treppen und den Aufzug schaffen. Ein wichtiges Maß dabei ist die Etagenhöhe. So ist bei den Regalen bedacht., das der Mensch lediglich aus Regalen etwas greifen kann, deren Böden nicht Höher als 1,90 Meter sind. So beträgt die Regalhöhe im Urban Store pro Etage 2,4 Meter, wobei der oberste Regalboden bei 1,80 Meter liegt. So kann jeder Erwachsene selbständig bis in das oberste Regalfach greifen. In der Zweiter Etage kommt noch eine Regalebene dazu. Diese beherbergt aber nur die Haustechnik und Lüftung. Auch geht das Regal eine Fachhöhe tiefer in den Boden und bietet damit ein Hohlraum für Gebäudetechnik Installationen.
Das Gebäude besteht aber nicht nur aus Regalen. Für die Nutzungen wie Multifunktionsraum, Werkstatt und Versorgung bleibt die minimal Tragstruktur bestehen, die Regalböden fallen jedoch weg und es entstehen großzügigere Räume, die dem Bedarf der Nutzung entsprechen.
Der Prototyp erfüllt das Raumprogramm, welches als Mindestgröße angesehen werden kann. Durch das Raster und die Struktur kann das System in der Breite, Tiefe und durch eine weitere Etage erweitert werden.

Laudatio der Jury

Die Arbeit bietet einen sehr interessanten Lösungsansatz für die innovative, multifunktionale Gebäudetypologie eines „Urban Store“, der durch interkulturellen Austausch gerade in Großstädten eine nachhaltige Lebensweise fördern soll. Im Sinne einer großen Bibliothek sollen „Dinge“ des täglichen Gebrauchs für Nachbarschaften ausleihbar werden, darüber hinaus Reparaturen und Workshops angeboten werden. Am Beispiel Berlin wurden anhand von drei modellhaften Grundrisstypologien städtebauliche Potentiale für mögliche Standorte eruiert, hierbei die vier Ziele der Arbeit, Innovation, Interdisziplinarität, Praxisbezug, sowie Konstruktion und Nutzbarkeit den Recherchen und Darstellungen zugrunde gelegt. Als weitergehende Kriterien einer „Sharing Economy“ fließen soziokulturelle Entwicklungen, Neuinterpretationen von verfügbaren Werkstoffen und Techniken, fachübergreifende Verbindungen von Architektur, Stadtplanung, Soziologie, Betriebswirtschaftslehre und Rechtswissenschaft in die Betrachtung ein.

Für die konstruktive Lösung wird eine im Grundsatz bei Silobauweisen von Hochregallägern bewährte elementierte Regalkonstruktion des Stahlbaus vorgeschlagen. Bei dieser auf standardisierten Palettenmassen aufbauenden, modularen Konstruktion trägt die Regalstruktur als Tragwerk ohne weitere Subsysteme Fassaden und Dächer. Die Stützen und Traversen des Regalbaus sind hierbei keine gewalzten Profile, sondern dünnwandige gelochte Winkel- oder Hohlgeometrien des Logistikbaus, deren Adaption an das nach Vorstellungen der Verfasser jetzt räumlich anspruchsvollere, multifunktionale Programm zu bewerkstelligen wäre. Besondere Anforderungen lägen hierbei u.a. in konstruktiven Vorschlägen im Hinblick auf die in die ursprünglich kleingliedrige Regalstruktur zu integrierenden grösseren Spannweiten für Hallenräume, Vorschläge zur Ausbildung von Geschossdecken, Einfügung von Treppenräumen, und natürlich Brandschutzaspekte. Leider bleibt die Arbeit hier sehr pauschal und geht auf diese konstruktiven Fragestellungen nicht mit entsprechenden Detailvorschlägen ein.

Insgesamt bietet die Arbeit „Urban Store“ mit der entwurflichen Adaption einer bereits bei ähnlichen Nutzungen und Bauvolumen eingeführten Bausysteme eine faszinierende Idee, auch die städtebaulichen Untersuchungen am Beispiel Berlin überzeugen, die konstruktiven Aspekte wären weiter zu vertiefen. Die Jury würdigt die Arbeit mit einer Belobigung beim Stahlbauförderpreis 2020.