Erläuterungstext von Marlies Richter und Mathias Wolf zur Einreichung beim Förderpreis des Deutschen Stahlbaues 2020

Droben stehet die Kapelle,
Schauet still in’s Thal hinab,
Drunten singt bei Wies’ und Quelle
Froh und hell der Hirtenknab’.
Traurig tönt das Glöcklein nieder,
Schauerlich der Leichenchor;
Stille sind die frohen Lieder,
Und der Knabe lauscht empor.
Droben bringt man sie zu Grabe,
Die sich freuten in dem Thal;
Hirtenknabe! Hirtenknabe!
Dir auch singt man dort einmal.

„Die Kapelle“
von Ludwig Uhland

Die Aufgabe

Kapellen, meist architektonisch und historisch wertvoll, prägen das Bild unserer Landschaften. In regelmäßigen Abständen wird das Thema des „kleinen sakralen Raumes“ aufgegriffen, neu interpretiert und in einen aktuellen Kontext gesetzt. Vor diesem Hintergrund ist das Ziel dieses Entwurfs, eine kleine Kapelle zu entwerfen und detailliert durchzuplanen. Wir sehen dieses Bauwerk als Raum der Stille, als Rückzugsort für Menschen aus verschiedensten Kulturen und Religionen. Damit soll der Entwurf ein gewünschtes gleichrangiges Nebeneinander eines bekenntnisunabhängigen und dennoch christlich geprägten Raumes thematisieren.

Der Ort

Westlich von Heidelberg, nördlich des Neckars liegt der Heiligenberg. Mit überwiegend Waldfläche und einigen historischen Gebäuden zählt er als Erholungsort und Touristenattraktion der Gegend. Der Ort lässt sich einfach zu Fuß über einen Waldweg erreichen, es besteht aber auch die Möglichkeit mit dem Auto auf einen Parkplatz nahe der Waldschenke zu fahren.
Der Rundweg beginnt am sogenannten Heidenloch, ein noch erhaltener Mittelalterlicher Brunnen, der nicht weit vom Heiligenbergturm entfernt ist. Der Heiligenbergturm gehört zu den stark besuchten Hauptattraktionen vor Ort und fungiert für viele Wanderer als reiner Aussichtspunkt in Richtung der Altstadt Heidelbergs. Das ebenfalls gutbesuchte Restaurant Waldschenke, etwas nördlich gelegen, erschließt sich entlang des Chaisenwegs über einen versiegelten Parkplatz. Weitere 5 Minuten Fußweg führen zur Heiligenberganlage vormals Thingstätte, einem nationalsozialistischen Propagandabau, ähnlich eines Freilufttheaters. Hier trifft man schon auf deutlich weniger Touristen. Das Wegenetz verästelt sich zunehmend und man begegnet nur noch vereinzelt Wanderern. Die verschiedenen Pfade bilden einen kreisförmigen Umlauf um die alte Ruine des Michaeliklosters. Auf jenen Pfaden wird die Atmosphäre des Waldes immer deutlicher spürbar, bis sie an der nördlichsten Stelle ihren Höhepunkt erreicht. Ruhe. Ausgeglichenheit. Einklang. Das anfängliche Bedürfnis nach Rückzug, einem introvertierten Raum, löst sich hier auf und verlangt nach Offenheit und Freiheit.

Aus der Planung

Das Konzept

Das Ziel, das aus genau diesem Grund hier verorteten Entwurfs, ist es, diesem Verlangen gerecht zu werden. Die Kapelle, gewissermaßen als zielgerichtete Verlängerung des Weges über den Hang hinaus ragend, umrahmt mit dem Thema des gefassten Raumes die Aussicht über die Baumkronen und fängt die beruhigende Atmosphäre des Ortes ein. Ausschlaggebend für diese Wirkung ist das Erleben von Wind und Wetter, bei Licht oder Dunkelheit, um der Natur ausgesetzt zu sein und sich selbst seiner Selbst bewusst zu werden. Um den natürlichen Außenraum in den Archetypus des sakralen Innenraums zu integrieren und nicht auszuschließen, wird der Raum ohne geschlossene Flächen definiert. Die filigrane Stahlkonstruktion beschreibt die Hülle von außen als eine scheinbar ungeordnete Physiognomie, die sich hingegen im Innenraum zu einer klaren Form ausbildet. Die Form des basilikalen Aufrisses der Kapelle, des einem Joch ähnelnden Stützenrasters, der Mittel und Seitenschiffe, der am Ende stehenden Gebetsbank, leitet sich von der Morphologie eines klassisch christlichen Sakralraums ab.

Die Konstruktion

Dem Leitfaden der konstruktiven Gestaltung ging immer die Entwurfsbestimmende Idee der Beziehung zwischen Kapelle und Natur, zwischen Innenraum und Außenraum, zwischen Atmosphäre und ihrer Rahmung voraus. Die Kapelle brauchte ein möglichst hohes Maß an Filigran und Durchlässigkeit, das dem Besucher ein schon fast unsicheres Gefühl gibt, ausgelöst durch die Reduzierung der Konstruktion und die daraus folgende Auflösung der Gebäudehülle. Um deshalb die Profilquerschnitte möglichst gering zu halten war eine Stahlkonstruktion naheliegend. Das Gebäude besteht grundsätzlich nur aus Primärkonstruktion, Sekundärkonstruktion und einigen weiteren wenigen Elementen. Die Primärkonstruktion besteht aus Stützen in einem 1×1 Meter Raster, die jeweils aus 4 gleichschenkligen L-Profilen verschraubt sind um in ihren Zwischenräumen jeweils in X- und Y Achse die Sekundärkonstruktion einzuspannen. Die Stützen werden unauffällig in die quer zum Hang angeordneten Streifenfundamente geschraubt, sodass die Stützen wie die Bäume der Umgebung aus dem Boden zu wachsen scheinen. Die Sekundärkonstruktion besteht aus dünnen Flachstahlprofilen, die in Längs und Querrichtung verkreuzt sind und so die Aussteifung der Primärkonstruktion gewährleisten und gleichzeitig den Raum definieren. Der Boden besteht aus einem Gitterrost, dass durch seine Durchlässigkeit in Kombination mit der darunterliegenden horizontalen Aussteifung an das Muster eines gefliesten Kirchenbodens erinnert. Im gleichen Duktus erhebt sich am Ende der Kapelle die klassische Gebetsbank aus dem Boden.

Laudatio der Jury

Der Entwurf befasst sich mit der Schnittstelle zwischen gebautem Raum und Natur, Schutz und Entgrenzung, Geborgenheitsgefühl und Offenheit, zwischen ineinanderfließendem Innen- und Außenraum, Wanderweg und Spiritualität, Kontur und Auflösen der Hülle. Die Arbeit spielt mit diesen Gegensatzpaaren und positioniert sich geschickt in ihrem Spannungsfeld.
Der Rückzugsort bietet eine sich verändernde Form und Gestalt je nach Perspektive und Standpunkt des Wandernden. Die Kapelle kann gewissermaßen eine Vielzahl an Zuständen und Formen annehmen – mal Teil des Waldes, mal sakraler Innenraum sein – und dient dadurch als Projektionsfläche für den Betrachtenden.
Ein atmosphärisch höchst aufgeladener und spannender Beitrag zum Thema des sakralen Raumes in der Natur, eines Verweil- und Kontemplationsortes, der sich dank seiner filigranen Stahlstruktur behutsam in seinen Kontext einfügt und einen feinfühligen und gleichsam kraftvollen architektonischen Rahmen für den Betrachtenden in der Natur schafft.