Text von Gustav Düsing, Thorsten Helbig, Matthias Oppe
Der Neubau des Studierendenhauses an der Technischen Universität Braunschweig wird als multifunktionaler Raum verstanden. Er bietet auf über 1.000 Quadratmetern Platz für 200 Arbeitsplätze. Das zweigeschossige Gebäude ist ohne massive Wände ausgebildet und erlaubt eine flexible Nutzung. Das Primärtragwerk ist reversibel: Alle Bauteile sind leicht entfügbar und können nach der Lebenszeit des Gebäudes in gleicher oder variierter Kombination wieder bzw. weitergenutzt werden. Auch kann das modular entwickelte Tragsystem leicht erweitert, reduziert oder ergänzt werden.
1 Konzept: Zeitgemäßes Lernen
Ausgangspunkt der Konzeption des neuen zentralen Studierendenhauses ist die berühmte Braunschweiger Zeichensaalkultur der Architektur-Studierenden. Die selbstverwalteten Strukturen ermöglichen eine chaotisch-kreative Atmosphäre. Diese bildet den Nährboden für das gemeinschaftliche Arbeiten und den fruchtbaren Austausch, was zur Entwicklung neuer Ideen und Konzepte unabdingbar ist, und gilt seit Jahrzehnten als integraler Bestandteil des innovativen Lehrkonzepts als ein Aushängeschild der TU Braunschweig. Doch wie lässt sich das in zeitgemäße räumliche Strukturen fassen, welche für die heutigen und zukünftigen Studierendengenerationen aller Fachbereiche nutzbar sind? Mit der Covidpandemie hat sich auch das Studieren verändert: Der Campus wurde vom digitalen Raum als Ort des Lehrens und Lernens abgelöst. Was muss der Campus leisten, um sich als physikalische Mitte universitären Lernens behaupten zu können? Kollaborative und interdisziplinäre Lernmethoden fordern traditionelle Methoden der Wissensvermittlung heraus und verlangen auch nach neuen Räumen, die dies zulassen und begünstigen. Soziale Kontakte und fachlicher Austausch zwischen den Studierenden treten gleichwertig neben Vorlesungen und Seminare. Lernlandschaften unterliegen einem steten Wandel. Wie kann eine gebaute Struktur auf sich ständig ändernde Anforderungen flexibel reagieren?
2 Architektonischer Entwurf und Raumkonzept
Bei dem ausschließlich unter wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen der TU ausgelobten Realisierungswettbewerb konnte sich die hier vorgestellte Idee einer hochflexiblen Struktur, die sich leicht an örtlich und zeitlich variierende Anforderungen anpassen lässt, durchsetzen. Das Konzept basiert auf einer puristischen Architektur, die sich auf das Wesentlichste beschränkt: die Umrisslinien. Das Haus bleibt wandlos, offen, transparent, flexibel. Es bietet zahlreiche Raum-Variationen und wird zur wandelbaren Basis für Ideen und Konzepte, denn längst arbeiten Studierende nicht mehr nur am Schreiboder Zeichentisch, sondern sind digital und global vernetzt und können so ortsunabhängig studieren. Das neue Studierendenhaus bietet den zeitgemäßen Raum für gegenseitigen Austausch, zum Präsentieren der erarbeiteten Ergebnisse oder auch einfach zur Entspannung und Pflege sozialer Kontakte. Es ist so eine Miniatur einer idealen Welt, die das Globale ebenso beherbergt wie das Lokale – ohne feste Wände als permanente Beschränkung. Jeder kann selbst entscheiden, ob und wie Räume durch Vorhänge abgetrennt werden, kann sich so eine offene, transparente oder geschlossene, isolierte Atmosphäre schaffen. Beides ist möglich und notwendig und kann von den Studierenden in vielen Abstufungen getestet, erlebt und variiert werden. Zeitgemäßes Lernen heißt miteinander Lernen: Hierarchien werden aufgebrochen, eine Atmosphäre des gleichberechtigten Erlebens geschaffen. Dies ist die Idee des demokratischen Raums als ein Ort, der sich überall gleichwertig darstellt, ohne dunkle Ecken oder besonders privilegierte Bereiche, ohne anonyme Treppenhäuser oder laute Flure. Folgerichtig gewährleistet eine umlaufende Glasfassade den Zugang zu Tageslicht in allen Bereichen. Um auch innerhalb des Hauses keine reinen Verkehrsflächen zu schaffen und das Gebäude in die bestehenden Laufwege der Studierenden zu integrieren, gibt es neben dem Haupteingang noch sieben weitere Eingangstüren an allen Fassadenseiten. So entsteht ein informeller Raum, der sich weiträumig entwickelt und zum Außenbereich öffnet. Nicht nur die Begrenzungen des Innenraums, sondern auch der Übergang zwischen innen und außen wird durchlässig. Die Raumstruktur setzt sich im direkt angrenzenden Außenraum, auf den Terrassen und Balkons, weiter fort. Im Außenraum angeordnete Sitzmöglichkeiten und zusätzliche Lernplätze binden den Zeichensaal stärker in das Campusgelände mit seinen umliegenden Gebäuden ein. Das informelle miteinander Lernen wird durch die transparente Außenhülle in den öffentlichen Raum projiziert und vermittelt so das Bild einer modernen, zeitgenössischen Universität, in der die Studierenden im Mittelpunkt stehen.
3 Primärtragwerk
Das Primärtragwerk ist als Stahlkonstruktion mit einem regelmäßigen Stützenraster von 3,0 x 3,0 Meter konzipiert, das auf einer 25 Zentimeter dicken Bodenplatte und Einzelfundamenten gegründet ist. Die horizontale Gebäudeaussteifung erfolgt über schubsteife Tragwerksfelder, die durch Integration zug-/drucksteifer Diagonalen in Treppenwangen und geschlossenen Wandbereichen integriert sind. Zusätzlich wird die Horizontalsteifigkeit des Systems durch die Einspannung der Stützen in die Fundierung erhöht: Die Kopfplattenstöße am Stützenfußpunkt sind über in Hülsenanker eingeschraubte Gewindestäbe auf die einbetonierten Auflagerelemente aufgesetzt. Die verschraubte, vorgespannte Fügung erleichtert und verkürzt die Montage und erlaubt eine einfache Demontage. Alle Stützen und Träger sind mit identischem Querschnitt als quadratische Stahlhohlprofile 100 x 100 Millimeter einer Wandstärke von 10 Millimeter aus Stahl S355 ausgeführt und gelenkig miteinander verbunden. Leichte Brettsperrholzelemente (Lignotrend wegen optimaler Akustik) werden zwischen den Trägern eingesetzt. Um die Biegebeanspruchung der Träger zu vereinheitlichen, sind die Lignotrend-Deckenelemente alternierend ausgerichtet. Aufgrund der daraus resultierenden gleichmäßigen Auslastung können Stützen und alle Träger mit identischen äußeren Querschnittsabmessungen ausgebildet werden. Als Dacheindeckung wird ein materialeffizientes Stahltrapezblech gewählt. Die Horizontalaussteifung erfolgt über eine liegende Verbandsebene, die oberhalb der Trapezblechhaut in den Dachaufbau integriert ist. Die Fügung der Stahlhohlprofile erfolgt durch eine innenliegende, vorgespannte Schraubverbindung. Eine mit Senkkopfschrauben befestigte Deckplatte verschließt die unterseitige Montageöffnung. Zur Vereinfachung der konstruktiven Durchbildung der Anschlüsse wurden die Knotenpunkte in unterschiedliche Beanspruchungsgruppen unterteilt, um eine jeweils wirtschaftliche Ausführung für lokal variierende Beanspruchungen zu ermöglichen.
4 Modularität und Vorfertigung
Um als Materiallager der Zukunft zu fungieren, muss (möglichst) jedes Bauteil leicht und rückstandsfrei demontierbar und hinsichtlich mechanischer und konstruktiver Eigenschaften eindeutig identifizierbar sein. Das Tragwerk ist deshalb als leicht fügbare und vollständig zerstörungsfrei entfügbare Konstruktion entwickelt. Den Planenden ging es primär darum, das Gebäude als Ganzes so zu konstruieren, dass es nach einer Erstnutzung am Erstellungsort rückgebaut und an einem anderen Ort ohne zusätzlichen Aufwand in unter Umständen variierter Konfiguration wieder errichtet werden kann. Deshalb ist das Tragewerk modular konstruiert: Alle konstruktiven Bauteile haben gleiche Abmessungen und identische Anschlüsse. Das quadratische Achsmaß erlaubt es also nicht nur, das Gebäude in seinem Inneren zu verändern, nachzuverdichten oder auszudünnen, es kann auch an einer anderen Stelle und in einer anderen Konfiguration wieder aufgebaut werden. Die Elemente sind so dimensioniert, dass diese mit Gabelstaplern oder Hebebühnen, also ohne schweres Krangerät, montiert und demontiert werden können. Die komplett vorgefertigte Struktur erlaubt kurze (De-)Montagezeiten und durch das enge Toleranzmaß der vorgespannten Schraubverbindung eine hohe Montagepräzision.
5 Betriebsenergie: Konzept
Das energetische Konzept basiert auf einer anliegenden Fernwärmeversorgung aus 80 % regenerativen Energiequellen in Kombination mit Erdsonden zur sommerlichen Kühlung. 3 Meter tiefe Laubengänge mit Vordächern und Balkonen sowie die umliegenden Bäume verschatten die Fassade im Sommer. Im Winter generiert der Lichteinfall der tiefstehenden Sonne durch das blattlose Astwerk einen solaren Wärmeertrag. Die bis zu 200 häufig an Laptops arbeitenden Studierenden sorgen zusätzlich für passive Wärme. Das Gebäude wird über Kippfenster und eine zentrale Oberlichtkuppel natürlich be- und entlüftet.
6 Emissions- und Ressourceneffizienz als Entwurfsparameter
In einer an der HafenCity Universität Hamburg erstellten Bachelorarbeit wurde die Ressourcen- und Emissionseffizienz des Tragwerks mit der einer in konventioneller Stahlbetonbauweise entwickelten Struktur verglichen, insbesondere zur Gegenüberstellung der grauen Emissionen im Herstellungs- und Rückbauprozess. Die quantitative Studie zeigt, dass die Treibhausgasemissionen des kreislaufgerechten Gebäudes ähnlich hoch sind wie die einer konventionellen Stahlbetonkonstruktion (Lebenszyklusphase A-C: 81/89 kg CO2-eq/m²). Die Bewertung gemäß Urban Mining Index (UMI) ergab hingegen, dass das Studierendenhaus aufgrund der verwendeten Materialien und deren Fügung ein wesentlich größeres Potenzial als ein konventionell ausgeführter Baukörper hat, in geschlossenen Kreisläufen geführt zu werden. Nach der UMI-Bewertungsmethode wird das Loop-Potenzial, welches den Anteil der Materialien, die sich in geschlossenen und offenen Kreisläufen führen lassen mit 47/33 % (kreislaufgerecht/konventionell) bewertet. Dies ist im Wesentlichen auf den hohen Anteil von Stahlbauteilen aus recyceltem Stahl/Sekundärstahl und das daraus resultierende Potenzial in geschlossenen Kreisläufen ohne Qualitätsverlust (Closed-Loop-Potenzial) im Zeitraum vor der Nutzung (Pre-Use-Phase) sowie auf das hohe Potenzial der Wiederverwendbarkeit oder -verwertbarkeit (Recycling von Stahlschrott) nach der Lebensdauer des Bauwerks (Post-Use) zurückzuführen.
Die Untersuchung zeigt aber auch, dass bei den beiden betrachteten Varianten (kreislaufgerecht/ konventionell) ähnlich hohe Treibhausgasemissionen (Lebenszyklusphase A-C: 81/89 kg CO2-eq/m²), jedoch deutlich unterschiedliche Urban Mining Indicators für den Anteil der Materialien in geschlossenen und offenen Kreisläufen (Loop-Potenzial) erreicht werden (49,6/32,7 %), was im Wesentlichen auf den hohen Anteil der Wiederverwendbarkeit der Stahlbauteile (74 %) und das daraus resultierende Potenzial in geschlossenen Kreisläufen ohne Qualitätsverlust (Closed-Loop-Potenzial) im Zeitraum vor der Nutzung (Pre-Use-Phase), sprich der Herstellung und dem Transport, zurückzuführen ist.
7 Fazit
Das in engem interdisziplinärem Austausch von Architektur, Tragwerks- und Fassadenplanung sowie weiteren Fachplanern und Experten für spezifische Bauweisen konsequent modular entwickelte Gebäude kann als Prototyp für kreislaufgerechtes Bauen angesehen werden. Alle Elemente des Primärtragwerks können gemäß dem End-of-Life-Szenario direkt wieder- oder weiterverwendet werden. Die vollständig reversible Gebäudestruktur ist konstruktiv und architektonisch vorbildhaft gelöst.
Laudatio der Jury
Die Erwartungen, die man im Vorfeld an eine eingereichte Arbeit des Preisträgers des „Deutschen Stahlbaupreises“ hat, erfüllt das Projekt des Studierendenhauses in Braunschweig in überzeugender Art und Weise.
Die Arbeit dokumentiert hervorragend wie das Material Stahl zu einer qualitativ hochwertigen, leichten, stahlspezifischen Baugestalt geführt werden kann.
Bestechend ist, dass aktuelle Themen wie z.B. effizienter Einsatz von Ressourcen, Modularität, cradle to cradle…. nicht nur wie selbstverständlich, spielerisch, ohne mahnenden Finger, in das Projekt integriert werden, sondern dass dies zugleich zu einer einzigartigen, wohltuenden Atmosphäre in allen Bereichen des Hauses führt. Das Haus schafft über seine Materialisierung und Struktur eine unverwechselbare Arbeitswelt für die Studierenden, die inspirierend ist und die zeigt, dass auf die aktuellen Fragestellungen mit angemessenem Materialeinsatz, unaufgeregt geantwortet werden kann, ohne auf eine eigene, prägende Gestaltidee verzichten zu müssen.
Das Studierendenhaus Braunschweig erhält einstimmig die Auszeichnung des „Deutschen Stahlbaupreises 2024“.